Die "Blätter aus dem Schlosse"

Ein Rundbrief im Wandel

Anna Vorwerk, eine junge Frau gründet im Alter von 27 Jahren zusammen mit Henriette Breymann einen Kindergarten mit Erzieherinnenausbildung, eine höhere Mädchenschule mit Lehrerinnenseminar und war bereits mit 31 Jahren allein dafür verantwortlich.

Ihr Ansatz jungen Mädchen eine den Jungen adäquate Erziehung, die zur Ausübung eines Berufs befähigen sollte, zu bieten war in jeder Hinsicht fortschrittlich.  Ihr Ansatz war heutigen pädagogischen Gedanken weit voraus, denn sie ermöglichte bereits eine „Bildung nach Möglichkeiten“ in ein –und derselben Bildungsanstalt. 

Ihr Gedanke war ganzheitlich geprägt und daher waren ihr alle Schülerinnen, die ihre Seminare besucht hatten, ein wenig wie Familie. Einen dauerhaften Kontakt zu wünschen und zu ermöglichen ergab sich da wahrscheinlich wie von selbst. 

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Das erste hektografierte Schreiben vom 21.November 1880 ist nur wenig umfangreicher als die vorangegangenen Privatbriefe.

Im Mai 1882 erscheint der  nächste bereits 10 Seiten umfassende Brief. In dem berichtet sie, dass der 4-5 Morgen umfassende Schloßgarten gepachtet werden konnte und neben Beeten und einer 20m langen Veranda auch ein großer Spielplatz eingerichtet wurde.

Ende November 1883 folgt das nächste Schreiben. Der Freitod einer Seminaristin, ein langer Erholungsurlaub der Schulleiterin und das Lutherfest 1883  bilden den Schwerpunkt.

Im Februar 1886 sind es bereits 12 Seiten, die „an unsre fernen Schloßkinder, die alten und jungen“ gerichtet werden. Die Schlossanstalten bestehen bereits 20 Jahre und die Adressaten sind entsprechend unterschiedlichen Alters.

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Berichtet wird über das Jahreszeitenschlossfest 1885, welches eine Augenweide gewesen sein muss, über den neuen Konzertsaal und den Einzug des Prinzregenten von Braunschweig: Prinz Albrecht von Preußen und seiner Gemahlin.

Den Eindruck, es würde nur gefeiert, zerstreut Anna Vorwerk mit Berichten über das Erstellen eines Französisch-Repetitoriums, der Gründung eines Anti-Fremdwörtervereins und der Tatsache, dass sich von der ernsten Regelmäßigkeit des Alltagslebens eben schlechter erzählen lasse.

Die Erkenntnis, dass inzwischen 500 Empfänger zu bedenken waren, dazu die Zahl berichtenswerter Ereignisse zunahm, schien den guten Gedanken in der Zukunft an sich selbst scheitern zu lassen.

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Konsequenterweise tat Anna Vorwerk einen beherzten Schritt:

Sie schuf am 1. Oktober 1887 die „Blätter aus dem Schlosse“, in denen sie nicht nur selbst berichten, sondern auch anderen dazu Gelegenheit geben wollte.

Die Hefte hatten ein unverkennbares Merkmal, eine Vignette, die  ein Bild des Schlosses zeigte, umrahmt von der Inschrift: Der Herr ist mein Hirte. Zu beiden Seiten sieht man ein Stück Schlossgarten, links spielen Kinder, rechts wird gelernt.

Alle Vierteljahr kam dieses Heft in die Haushalte der ehemaligen Schülerinnen. Ab Neujahr 1888 kostete es eine Reichsmark, später 1,25 RM die Hefte vierteljährlich zu beziehen. Die Druckkosten bezahlte Anna Vorwerk vollständig privat, Überschüsse kamen bedürftigen Schülern und später dem Feierabendhaus zugute.

Im Kollegium gab es Ausschüsse: Beurteilung, Korrektur, Rechnungsführung und Versand.

Dabei stellte Anna Vorwerk (die immer noch die Hauptberichterstatterin war) sich aber selbst so weit in den Hintergrund, dass nicht einmal ein  Rätsel, dessen Lösung ihr Name war, abgedruckt werden durfte.

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Es wurde über Reisen berichtet, Bücher und Theaterstücke empfohlen, über historische Ereignisse und Persönlichkeiten der Zeit berichtet, Gedichte veröffentlicht, aber auch Erlebnisse aus dem Familienleben verheirateter(!) ehemaliger Schülerinnen geschildert.

In der sogenannten Chronik – einer Art fortgesetztem Tagebuch – erfährt man allerlei alltägliches, vom ersten Schlagen der Turmuhr nach 30 Jahren Stille, Jubiläen, der Rattenplage im Apfelkeller, von Schulfesten in Antoinettenruh usw.

Und es gab die Familienecke (Verlobungen/Hochzeiten/Geburten)und den Briefkasten.

Der Briefkasten verschwand mit Anna Vorwerks Tod, denn er war ihr ganz persönliches Mitteilungsforum: Dank für Zusendungen/Fotos, aber auch dem Satz: „Es kann sehr gemütlich bei elektrischem Licht sein, wenn wir's nur hätten!“

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Im Kollegium der Schule wurden die Aufgaben (Redaktion, Versand, Kassenführung)  verteilt und das Schlösserblatt so auch weiterhin versandt. Offensichtlich funktionierte das „Prinzip der vielen Autoren“ auch weiterhin.

Die Themen reichten von:

Das Übersetzen aus dem Französischen ins Deutsche

Über

Die englische Aussprache in den Oberklassen

Und

Etwas zum zweiten Esperantistenkongreß

Bis zu Aufsätzen mit den Themen

Etwas über Blumenpflege

Oder

Mein Bräutigam

Dazu jede Menge Reiseberichte und natürlich Berichte über Schulveranstaltungen.

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Immer waren die „Blätter aus dem Schlosse“ gewollt eine Mischung aus persönlichen Erlebnissen und Geschichten, Berichten, die den Ehemaligen das aktuelle Schulleben näherbringen sollten, und Diskursen zu einzelnen Themen oft auch mit frauenpolitischen Schwerpunkten, die der einen oder anderen Autorin am Herzen lagen und so dem Leserinnenkreis nahegebracht wurden. 

Und das spiegelt sich dann auch in den kommenden Jahren ganz besonders in den Heften:

Zwischen dem Frühjahrsblatt 1914 und seinem Nachfolger klafft eine Lücke in dem ansonsten eingehaltenen Vierteljahrestakt:

Geschuldet dem Kriegsausbruch 1914. Statt Hefte zu einem Termin zu versenden, „wo doch keiner viel Zeit und Lust zum Lesen hatte“,  wurden die für den Versand benötigten 100 Mark lieber zu „Kriegszwecken“ gespendet, wie im Herbstblatt dann erklärend berichtet wird.

Überhaupt dominiert ab sofort der Krieg: Feldbriefe werden zitiert, ein Rotkreuzhelfer berichtet, Gedichte zum Krieg werden verfasst, dem Untergang der Dresden werden mehrere Berichte gewidmet…

Unfreiwillig komisch wirkt der Bericht über einen Professor des zoologischen Instituts, der seine Aufnahme ins Heer über die Erforschung der Läuse erzwang.

16 Seiten widmete man dem Vortrag der Oberlehrerin aus Osnabrück Ch. Von Lengerke: Der Weltkrieg, ein Erzieher der Frau zu vertiefter sozialer und staatsbürgerlicher Gesinnung (Blatt 113)

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1916: Mitten im Krieg feiert die Schule ihr 50-jähriges Bestehen

Anlass zu einer gerafften Chronik mit einer Art gedanklichem Rundgang durch die damaligen Schulräume und dir Erinnerungen verdrängen das Kriegsgeschehen. Neben dem Tod Martha Genzmers (Autorin des Buches: Anna Vorwerk) wird allerdings auch euphorisch von der Siegesfeier in der Reichshauptstadt aus Anlass des Seesieges am 31.Mai über die Briten berichtet. 

Aber der Anteil an „normalen“ Berichten steigt insgesamt wieder. Und wird auch bis zum Kriegsende dominieren.

Im Sommerblatt 1918 findet sich ein Aufruf, über eine Möglichkeit des Wiedersehens ehemaliger Schülerinnen nachzudenken und schon im Oktober 1918 traf man sich und erwog zum ersten Mal einen „Verband ehemaliger Schlossschülerinnen“ zu gründen.

Ohne den Kontakt über die Blätter aus dem Schlosse wäre das wohl nie geschehen.

Am 27.September 1919 war es dann soweit und in den „Blättern aus dem Schlosse“ steht zu lesen, dass 408 Ehemalige zusammenkamen und sich fortan als Verein unter dem Vorsitz Martha Zimmermanns fühlten.

Die Ankündigungen zu Schlössertagen (so nannte man nun die regelmäßigen Zusammenkünfte und so heißen sie ja auch bis heute) und Schlössertagsberichte gehörten nun zum regelmäßigen Lesestoff.

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1926 war dann zu lesen, dass die Schule in „Anna Vorwerk-Oberlyzeum umbenannt worden sei. Die Berichte hatten mittlerweile auch den Yellowstone Park oder Chicago zum Inhalt. 

1931 dann der verzweifelte Aufruf: Wenn sich nicht mehr Autorinnen finden kann, das Vermächtnis Anna Vorwerks nicht fortgesetzt werden und das Blatt stirbt! Dem scheinen etliche Schreiberinnen zu folgen, es erscheinen weiterhin regelmäßige Hefte

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1934 taucht ein Gedicht als Zitat aus dem Buch: „ketzerische Zeitgedichte, Bruchstücke eines Deutschenspiegels“ auf, welches den Drang des Deutschen Volkes nach Erweiterung des Landes ausdrückt. Es folgen Berichte über  das Saarland oder den Dienst auf einem U-Boot, ebenso über die koloniale Frauenschule in Rendsburg. Doch weiter in national geprägtes Gedankengut wird nicht vorgestoßen.

Im Jahr 1935 übernimmt der Bund ehemaliger Schlossschülerinnen die Herausgabe der Blätter aus dem Schlosse

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Einen Schatz birgt das Heft Nr. 170 aus dem Sommer 1936:

Dort werden einige der ursprünglichen Briefe, die die Vorläufer der Blätter aus dem Schlosse sind, zitiert.

Generell taucht jetzt viel Rückblickendes auf. August Herrmann, der mit Konrad Koch im 19.Jhdt. den Fußball einführte, Herzog Christian der Jüngere, Lutherfestspiel 1883 und natürlich die legendären Reiseberichte des Lehrers Dr. Walther Söchting in den zwanziger Jahren, mit denen die zunehmend dünner werdenden Hefte gefüllt werden. Und zum Rückblick auf die Feierlichkeiten zum 100.Geburtstag. 

Auch die beiden Frühjahrshefte aus 1940 und 1941werden mit ausgiebigen Berichten über Bessarabien bzw. über das 75-jährige Schulbestehen gefüllt.Ganz anders als im ersten Weltkrieg, wird das Kriegsgeschehen ausgeblendet und überspielt.

Danach versiegt unser Archiv. Wann die „Blätter aus dem Schlosse“ kriegsbedingt eingestellt wurden, haben wir noch nicht herausgefunden. Aber sie haben bis zum letzten Heft das immer gleiche Titelbild der Erstausgabe getragen

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Nach der „Neugründung des Schlösserbundes nach dem Krieg“ im Mai 1949 (mit 600 Teilnehmern am Schlössertag) beginnt auch für die „Blätter aus dem Schlosse“ eine neue Ära:

Sie werden von der Schule wieder neu aufgelegt 

Mit dem gewohnten Titelbild, im etwas kleineren A5-Format. Es soll zwei bis dreimal jährlich erscheinen.

Das hehre Ziel wird gleich im ersten Jahr verfehlt. Es dauert ein Jahr, bis das nächste Heft erscheint. Ein Weiteres erscheint dann gleich nach einem Vierteljahr. 

Aber erst im nächsten Jahr geht es weiter und dann pendeln sich die Ausgaben bei einem Winter und einem Sommerblatt ein. Ab 1953 werden die Hefte wieder vom Verband ehemaliger Schlossschülerinnen herausgebracht. 

Immer öfter erscheint es ohne die Vignette. Im Jahr 1966 wird sie zum letzten Mal verwendet.

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Die neuen Titelbilder zeigen zunächst diverse gezeichnete Ansichten und Darstellungen des Schlosses, später auch Wolfenbüttel-Ansichten, manchmal titelfüllend, manchmal nur als kleines Element. 

Ab und zu wird auch auf dem Winterblatt ein Psalm zitiert (auch die Vignette war ja mit der Zeile: „der Herr ist mein Hirte“ versehen 9.

1972 ziert eine Zeichnung des Brunnens die Weihnachtsausgabe.

Unter neuem Vorsitz veranstaltet der Verein viele Ausflüge und gesellige Zusammenkünfte, über die dann in den Blättern berichtet wird.

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Das geht auch in den 80ern und 90ern so weiter. Allerdings erscheinen in diesen zwei Jahrzehnten die Hefte unregelmäßiger (manches Heft gilt für zwei oder drei Jahre) und die Heftstärken schwanken zwischen 8 und 32 Seiten (Letzteres deckte dann einen Zeitraum von 3 Jahren ab und meldete 45 Neu-Mitglieder !!!).

Mit der Jahrtausendwende kehrt wieder Regelmäßigkeit ein (2 Hefte pro Jahr). Der Umfang der Blätter von zuletzt 12 Seiten wächst auf 20 Seiten an. Und es gibt Veränderungen, die unserer Zeit entsprechen: Wo vorhanden, werden Artikel mit Bildern ergänzt. 

Ab Nr. 94 wechseln auch die Titelbilder wieder. Schlossansichten oder Schlossdetails geben jeder Ausgabe ihr eigenes Gesicht, und ab Heft 100 sogar in Farbe. Die ist dann ab 2014 auch bei den Fotos der Innenseiten Standard.

Der 20-Seiten-Umfang wird zu besonderen Anlässen auch schon mal erweitert, so beim Schuljubiläum 2016, beim Schlösserbundjubiläum 2019 und teilweise während der Corona-Pandemie.

Was noch kommt? Wir werden es sehen….

 

 

 

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