Kurzer Abriss zur Schulgeschichte 
(I: 1866 - 1937)
 

 "Gymnasium im Schloss", ein ungewöhnlicher Name für eine Schule. Auf der einen Seite ein wenig einfallslos, auf der anderen Seite der mit gewissem Stolz gepaarte Hinweis auf die noble Herberge der Schule. Zwar regierte unter den Herzögen zu Braunschweig-Lüneburg, die hier seit 1432 die alte Burg und die dazugehörige Siedlung zu einer Residenz- und Festungsstadt ausbauten, so mancher kulturbeflissene Landesfürst. Zwar gibt es wohl in Deutschland keine zweite Residenz, in der die ("Herzog-August"-) Bibliothek gleichrangig neben dem (dereinst waffenklirrenden) Zeughaus steht. Doch hätte wohl keiner der Regenten es für möglich gehalten, dass sein Schloss dereinst eine "Bürgerschule" beherbergen würde. 

Hätte nicht der Hof 1753/54 Wolfenbüttel den Rücken gekehrt – das hat man in der Stadt den Fürsten bis heute nicht verziehen -, um wieder ins benachbarte Braunschweig zu ziehen, wäre dies wohl auch nicht geschehen. 

Anna Vorwerk

So konnte seit 1866 Anna Vorwerk, eine junge und dynamische Wolfenbüttler Bürgerstochter, in einigen Räumen des Schlosses einen Kindergarten betreiben, aus dem in den nächsten Jahren eine Mädchenschule mit Lehrerinnen-Seminar und weiteren Einrichtungen erwuchs. Später führte die Bildungseinrichtung allgemein den Namen "Schlossanstalten". 

Anna Vorwerk stammte aus einer angesehenen und wohlhabende Familie. Ihre Geburtsstadt war Königslutter. Ihr Vater wurde 1851 Obergerichtsrat am Obergericht des Landes in Wolfenbüttel. Bei der Ankunft der Vorwerks befand sich bereits eine sechsklassige Mädchenschule in der Stadt, die Anna Vorwerk besuchte. Dies war in der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit.

Die Organisation der neuen Schule

Am 15. Mai 1866 betraten die ersten 32 Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren ihren neuen Kindergarten im Schloss. Danach ging alles schnell. Ein Gesuch auf Errichtung einer Elementarklasse wurde am 12. Januar 1867 vom Herzoglichen Ministerium genehmigt. Ostern 1868 folgte die zweite, ein Jahr später eine dritte Klasse. Ebenfalls 1868 begannen "Fortbildungskurse für erwachsene Mädchen", die die Grundlage für das spätere Lehrerinnenseminar, etwa vergleichbar mit einer heutigen gymnasialen Oberstufe, bildeten. 1879 war der Aufbau der Schule abgeschlossen, weitere Kurse kamen jedoch hinzu. 1884 besaßen die Schlossanstalten folgenden Organisationsplan:

Kindergarten

Höhere Mädchenschule 1. – 10. Klasse: Berechtigt zum Besuch des Seminars

Parallelkurs ohne Englisch: 6. – 9. Klasse: Abschluss des Mittelschulkursus

Lehrerinnenseminar: 11. – 13. Klasse: Seminarexamen für Lehrerinnen an höheren Mädchenschulen

Handarbeits- und Zeichenkurse = Gewerbeschule: Vorbereitungskurs für Handarbeitslehrerinnen

Internat = Unterkunft für auswärtige höhere Töchter

Einige Zahlen – ein großer Erfolg

Im Sommer 1883 wurden im Seminar 48 Seminaristinnen und sechs Kindergärtnerinnen ausgebildet, die höhere Mächenschule besaß 318 Schülerinnen, im Kindergarten wurden 26 Kinder betreut, in der Gewerbeschule wurden 52 künftige Handarbeitslehrerinnen unterrichtet. Das Internat beherbergte 85 auswärtige höhere Töchter. Neben den Schülerinnen aus Wolfenbüttel und Braunschweig, die den Großteil ausmachten, kamen 91 aus Hannover und anderen preußischen Provinzen, 26 aus dem übrigen Deutschland, sechs aus Österreich, sieben aus England, drei aus den Vereinigten Staaten, zwei aus Frankreich und je eine aus Russland und Afrika (keine nähere Bestimmung). Die "Schlossanstalten" strahlten weit über das provinzielle Wolfenbüttel hinaus.

Ein Privatunternehmen

Die "Schlossanstalten" waren zunächst rein privat organisiert. Bereits 1870 musste Anna Vorwerk Schule und Seminar in eigener Verantwortung übernehmen, das heißt, sie haftete mit ihrem Privatvermögen. Die Leitung der Schule bestand aus einem dreiköpfigen Vorstand, der auch für die Besoldung der Lehrkräfte zuständig war. 1878 wurden vom Vorstand ein Antrag auf staatliche Unterstützung gestellt, da auf privater Basis kaum qualifizierte Lehrkräfte gefunden werden konnten. Damit war ein neuer Weg beschritten, der in der Weimarer Republik seinen vorläufigen Abschluss fand: die Überführung der privaten "Schlossanstalten" in eine staatliche Schule.

Der Tod Anna Vorwerks

1891 konnte man das 25-jährige Bestehen der Schule feiern. 1896 wurde auf Initiative von Anna Vorwerk ein "Feierabendhaus" für pensionierte Lehrerinnen eingerichtet. Ein schwerer Schlag für die "Schlossanstalten" war der Tod ihrer Gründerin und tatkräftigen Förderin. Anna Vorwerk starb am 18. November 1900 nach schwerer Krankheit in dem von ihr gegründeten "Feierabendhaus". 

Von der Stiftung zur "Stadtschule"

Nach ihrem Tod wurden die Anstalten 1902 in eine Stiftung umgewandelt. Im Ersten Weltkrieg hatte die Schule mit üblichen Problemen zu kämpfen. Die männlichen Lehrkräfte waren zumeist an die Front abberufen. Jedoch wurde 1913 im Schloss neben dem vorhandenen privaten Lyzeum eine Mittelschule für Mädchen eingerichtet, die 1922 die Stadt Wolfenbüttel übernahm. Eine schwerwiegenden Einschnitt brachten die Auswirkung der großen Inflation. 1923 war das Stiftungsvermögen zusammengeschmolzen, so dass das Lehrerinnenseminar, seit 1912 Oberlyzeum genannt, ebenfalls in die Hände der Stadt überging. Durch diese etwas seltsame Konstruktion wurde das Überleben der "Schlossanstalten" in schwerer Zeit gesichert. Seitens der Braunschweigischen Staatsregierung bestand nämlich zunächst kein Interesse, Lyzeum und Oberlyzeum weiterzuführen. 

Die "Schlossanstalten" werden staatlich

Seit 1919 mussten immer wieder provisorische Prüfungsberechtigungen beim Ministerium für Volksbildung eingeholt werden. 1923 wurde bereits von einer "Schule im Abbau" gesprochen. Ein Jahr später war davon jedoch nicht mehr die Rede. Das Jahr 1925 brachte jedoch im Zuge der langsamen wirtschaftlichen Erholung eine Wende. Ostern wurde eine neue Oberlyzeumsklasse mit 10 Mädchen eingerichtet und das Lyzeum wurde gemäß des neuen braunschweigischen Lehrplans in eine 6-klassige Mädchenschule umorganisiert, in die die Mädchen nach vier Jahren Grundschule aufgenommen werden konnten. Das Oberlyzeum verlor fortan vollständig den Charakter einer Berufsbildungsanstalt und führte als „Oberrealstudienanstalt“ in drei Jahren zur allgemeinen Hochschulreife. Die Schule nannte sich nun „Anna-Vorwerk-Oberlyzeum“.

Im Schuljahr 1927/28 wurden die ersten Schülerinnen in die neue Oberprima versetzt. Sie legten im Februar und März des Jahres 1928 unter den Augen des Landesschulrats die erste Abiturprüfung nach neuer Ordnung ab. Das gute Abschneiden der acht Abiturientinnen erfüllte die ganze Schule mit großem Stolz. Die Schülerinnen konnten sich nun an den Hochschulen in allen Ländern – mit Ausnahme von Bayern – immatrikulieren. Durch die zwischenzeitige Einführung von fakultativem Lateinunterricht wurde den Schülerinnen die Möglichkeit gegeben, die Ergänzungsprüfung in diesem Fach, die für viele Studiengänge notwendig war, in der Schule abzulegen. Zur Ausbildung als Volksschullehrerin musste man sich nun an den neu eingerichteten pädagogischen Akademien einschreiben.

Zwischen Republik und Diktatur

Die Schule wurde zielstrebig ausgebaut. Die Zahlen der Schülerinnen, die bis zur Mitte des Jahrzehnts stark zurückgegangen waren, stiegen bis 1930 wieder. 1930 hätte man ohne Probleme eine zweite Sexta eröffnen können, aber die Stadt Wolfenbüttel wollte nur der Aufnahme der Mädchen aus der Stadt zustimmen. Kurz vor Ostern 1930 wurde die Einrichtung der zweiten Sexta doch noch genehmigt, nachdem das Ministerium eine weitere Lehrkraft bewilligt hatte.

Die Landtagswahlen vom September 1930 brachten dramatische Veränderungen im Land, auch für die Schule. Die neue Regierung war eine bürgerliche unter Einbeziehung der NSDAP. Damit war Braunschweig des einzige Land des Reiches, das bis 1933 eine Regierung mit NSDAP-Ministern besaß. Viele Vorgänge, die die Phase nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Reich 1933 kennzeichneten, wurden in Braunschweig gewissermaßen vorexerziert. Ein ganz wichtiges Feld war dabei die Schulpolitik, die die Sozialdemokraten und die bürgerlichen Kräfte in den Jahren zuvor in ein unüberbrückbares Zerwürfnis geführt hatte.

Die Braunschweiger Sozialdemokratie hatte in den zwanziger Jahren eine besonders antikirchliche Schulpolitik betrieben und damit großen Unmut in den bürgerlichen Schichten ausgelöst. Besonders mithilfe der Personalpolitik versuchten die Sozialdemokraten, die gesamte Landesverwaltung in ihrem Sinne umzugestalten. Die meisten Schulratsstellen wurden zum Beispiel mit Parteimitgliedern besetzt, deren Qualifikation von bürgerlichen Kreisen heftig in Frage gestellt wurde. Die Politik der SPD lässt sich zum Teil damit erklären, dass die Partei vor 1918 aufgrund des nichtdemokratischen Dreiklassenwahlrechts im Land, obwohl stimmenmäßig in der Mehrheit, systematisch von der Mitbestimmung ausgeschlossen wurde. Die bürgerlichen Parteien erhielten dabei massive Unterstützung durch die evangelische Landeskirche. Dadurch bekamen die radikalen Kräfte in der Landes-SPD die Oberhand und die Gegenbewegung fiel nach 1918 nun besonders heftig aus. Gerade die Schulpoltik wurde zum bevorzugten Tätigkeitsfeld der Sozialdemokraten, weil man meinte, durch den Umbau des Erziehungswesens Chancengleichheit herstellen, Privilegien abbauen und den Einfluss der Kirche ausschalten zu können.

Gegen den erbitterten Widerstand der Kirche setzte die SPD das Fach „Lebenskunde“ für religionslose Schüler durch und richtete „Weltliche Schulen“ ein. Sie schaffte das Schulgeld in den Volksschulen ab und akademisierte die Volksschullehrerausbildung. An der TH Braunschweig wurde dafür eine Abteilung eingerichtet, in die sozialdemokratisch orientierte Professoren berufen wurden in der Hoffnung, so Einfluss auf die politische Einstellung der Junglehrer nehmen zu können. Verständlich ist diese Politik zweifellos, ob es unter den veränderten Bedingungen der Republik jedoch klug war, die alten Eliten vollkommen zu verprellen, stand nicht im Mittelpunkt sozialdemokratischer Überlegungen.

Die Bildungspolitik wurde 1930 unter dem Eindruck der sich verschärfenden Wirtschaftskrise zum zentralen Wahlkampfthema. Hier zeigte sich, dass die „Bürgerliche Einheitsliste“, die lediglich entstanden war, um die SPD von der Regierung abzulösen, für die Erreichung dieses Ziels sogar zu einer Koalition mit der NSDAP bereit war. Und nicht nur das. Es fällt schwer, dieses Ausmaß an politischer Verblendung zu verstehen. Der Wunsch, die Sozialdemokraten aus der Regierung zu vertreiben, ließ die BEL nicht nur nicht vor einer Beteiligung der NSDAP zurückschrecken, die durch ihre Schlägertrupps längst für Angst und Schrecken im Land sorgte. Sondern sie gab auch das Heft des politischen Handelns aus der Hand, als sie ihrem Juniorpartner gegen jeden parlamentarischen Brauch das Amt des Landtagspräsidenten und die beiden wichtigsten Ministerposten überließ. Die BEL-Politiker waren vom Terror der SA noch nicht betroffen und es mag sein, dass sich mancher insgeheim darüber freute, dass die SA-Schläger mit den verhassten „Sozis“ einmal „so richtig aufräumten“. Innen- und Volksbildungsminister wurde am 15. September 1931 einer der schärfsten und brutalsten Figuren der NSDAP, der Mittelschulkonrektor Dietrich Klagges.

Im Schlossbericht von 1931 äußerte man sich nicht gerade überschwänglich über die neue Lage: „Nachdem durch den Regierungswechsel auch auf schulpolitischen Gebiet andere Verhältnisse eingetreten waren, konnte in diesem Jahr zum erstenmal wieder eine Weihnachtsfeier in der Schule veranstaltet werden. Wieder erklangen im Konzertsaal die alten vertrauten Weihnachtslieder.“ Es wird aber auch deutlich, dass die sozialdemokratische Schulpolitik der vorangegangenen Jahre offensichtlich viel Missmut durch fragwürdige Symbolik erzeugt hatte.

Nicht sehr viel später erschütterte eine Schreckensmeldung die Schule. Im Herbst 1931 wurde im Rat der Stadt über die Aufhebung der Schule aus Sparsamkeitsgründen nachgedacht. Das versetzte nicht nur das Kollegium, sondern große Teile der Stadt Wolfenbüttel in Aufregung. Am 25. September 1931 fand deshalb auf Initiative der Elternschaft im Gemeindesaal der Hauptkirche eine Protestversammlung statt, der sich sechs Vereine aus der Stadt und dem Landkreis anschlossen. Konkret ging es darum, eine Zusammenlegung der Schule im Schloss mit der Oberrealschule (dem heutigen THG) zu verhindern, in der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden sollten. Den Rednern erschien dieses Vorhaben als ein ungeheuerlicher Skandal.

Nach zähen Verhandlungen gelang es der im März 1932 aus dem Amt scheidenden Direktorin Gertrud Hasse noch, diese Pläne zu verhindern. Nicht vermeiden konnte man allerdings die Nichtwiederbesetzung des Postens der Direktorin, so dass es zu einer einschneidenden Neuerung kam. Schulleiter wurde seit Ostern 1932 in einer Art Personalunion der Direktor der Städtischen Oberrealschule, Dr. Naumann. Zum ersten Mal besetzte ein Mann diese Stelle.

Im Ganzen betrachtet begann eine schwere Zeit für die Schule, die noch existenzbedrohlicher war als die Krise nach dem Ersten Weltkrieg. Nach Ostern übernahm der neue Schulleiter seine Tätigkeit. Das Erscheinen der „Jungen“ der Oberrealschule im Schloss erschien einigen Kollegen des Oberlyzeums wie der Einmarsch fremder Truppen. Die „gute alte Zeit“ war offenbar unwiederbringlich zu Ende. So klagte Dr. Kößler im Sommerblatt des Schlossberichts von 1932 darüber, dass man nur „noch in einigen Räumen des Schlosses wohnen“ dürfe. Diese Klage beruhte darauf, dass nach den Sommerferien die Oberrealschule in das Schloss übersiedelte und einen Großteil der Räume beanspruchte. Das „Anna-Vorwerk-Oberlyzeum“ musste in die zweite Etage in die Räume der ehemaligen Mittelschule einziehen. Für die Mädchen wurde im früheren Garten des Schlossverwalters ein neuer Schulhof geschaffen, den alten nutzten fortan die Jungen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die verbliebenen Kollegen und ihre Schülerinnen dies alles als Zurücksetzung empfunden haben. Die ehemalige Direktorin musste ihre Wohnung im Schloss verlassen. Fürs Erste war das selbständige Überleben der Schule (Sexta bis Oberprima) wohl gesichert, doch erfüllte der Preis dafür die meisten Kollegen mit Bitterkeit.

Kößlers Worten im Winterblatt des Schlossberichts von 1932/33 kann man entnehmen, dass man sich nunmehr an einem Tiefpunkt angelangt sah. „Anna Vorwerks Schule stirbt“, schrieb er erschüttert. „Ostern 1933 wird keine neue Obersekunda an unserer Schule eröffnet werden... Die Schule soll als sechsstufiges Lyzeum weitergeführt werden.“ Ähnlich der Situation von 1923/24 sollte das Oberlyzeum abgebaut werden. Die Große Schule, das Knabengymnasium, erlaubte nun auch Mädchen den Zugang ab der Untertertia. Die Oberrealschule öffnete den Mädchen den Zugang zur Oberstufe. Kößler fragte sich zurecht, welche Existenzberechtigung dann noch ein Lyzeum ohne Oberbau habe, wo es doch in Wolfenbüttel bereits eine Mittelschule für Mädchen gebe. Immerhin traten Ostern 1933 29 Schülerinnen in die Sexta ein.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Reich spiegelt sich in den Schlossberichten wie ein normaler Regierungswechsel. Nach der Schilderung der Ereignisse aus dem Schulleben beschreibt G. Goerne am Schluss, dass am 20. April beide Schulgemeinden, die sich im Schloss befanden, den Geburtstag des „Herrn Reichskanzlers“ begingen. Zur Feier war der Landtagspräsident Bertram, NSDAP-Mitglied seit 1925, anwesend. Der Schulleiter Naumann hielt eine Rede über Adolf Hitler. Am 1. Mai nahm das Kollegium der Schule an einem Festumzug zum „Tag der nationalen Arbeit“ teil.

Schulleben im „Dritten Reich“

Was in den meisten Chroniken aus dieser Zeit zu beobachten ist, trifft man auch in den Schlossberichten an: das für den historisch Zurückschauenden schwer verständliche wenig kommentierte Hinnehmen des nationalsozialistischen Regimes. Es gab keine öffentlichen Worte der Mahnung, falls sie denn überhaupt geäußert wurden. Man könnte vermuten, dass durch die in Braunschweig bereits existierende Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten bereits eine Beschränkung der Meinungsfreiheit geherrscht habe. Doch geht wohl schon die Voraussetzung dieser Vermutung in die Irre. Eine solche Denkweise setzt das Vorhandensein demokratischer Gepflogenheiten und die Vorstellung voraus, es habe in Schulkreisen eine öffentliche Opposition gegeben. Das war aber, nach allem, was man weiß, nicht der Fall. Allein die Feststellung, dass beim Regierungswechsel im Land 1930 als einziges bemerkenswertes Faktum hervorgehoben wurde, man könne nun wieder eine Weihnachtsfeier nach altem christlichen Brauch begehen, zeigt den eher sorglosen Umgang mit dem Nationalsozialismus, der mit einer großen Portion diffuser Hoffnung auf bessere Zeiten verbunden war. Gerade das Beispiel der Schule zeigt jedoch, dass man unter Umständen schnell von den harten Fakten der Wirklichkeit eingeholt werden konnte.

Bei einer näheren Betrachtung werden die Dinge aber noch komplizierter. Gänzlich verkehrt wäre die Vorstellung, das Kollegium hätte als homogener Block auf die neuen Herren reagiert. Zum Kollegium des Lyzeums scheinen nur wenige überzeugte Nazis gehört zu haben. Beispielweise war der neue Direktor Naumann wegen seiner ablehnenden Haltung bekannt. Er musste dafür schließlich mit seiner „Degradierung“ bezahlen. 1937 wurde der stramme Nationalsozialist Knochenhauer Direktor, Naumann unterrichtete als normaler Lehrer weiter – sicher eine besonders üble Form der Demütigung. Obwohl seit 1933 große Unruhe in das Kollegium aufgrund von zahlreichen Personalbewegungen eintrat, konnte bis jetzt nicht festgestellt werden, ob nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ Juden oder demokratische Kollegen aus der Schule entfernt wurden.

Auffällig sind manche Kleinigkeiten. Im Herbstblatt von 1933 berichtet Dr. Kößler von der Zeit zwischen dem 18. bis 26. September: „So besprach Herr Oberstudiendirektor Dr. Naumann mit der zu diesem Zweck kombinierten Prima... in sieben [einzelnen] Stunden die wesentlichen der auf dem Parteitag der NSDAP in Nürnberg gehaltenen Reden. [...] Gegen dieses große Geschehen verblassen die kleineren Ereignisse, die nur [im Original gesperrt] für unsere Schulgemeinde Bedeutung haben.“ Man erkennt hier deutlich die Unterscheidung zwischen Pflicht und Kür. Abgesehen davon, dass die „kleineren“ Ereignisse einen viel größeren Raum bei den Mitteilungen einnehmen, stelle man sich die beiden Primen aus Mädchen und Jungen vor, die sieben Schulstunden lang NSDAP-Reden „besprechen“, das heißt vom Direktor erläutert bekommen.

Unter Umständen spielt die Enttäuschung bei den Lehrerinnen und Lehrern eine Rolle, dass die Schule offensichtlich keine Freunde im Staatsministerium finden konnte. Ostern hatten nämlich viele Schülerinnen das Schloss verlassen, um andere Anstalten zu besuchen. „Es war eine gute Schule, die hier stirbt.“ So endet der Schlossbericht von Kößler. Zum Schuljahr 1934/35 meldeten sich jedoch wieder 30 Schülerinnen in der Sexta an. Das spricht dafür, dass die Gründung von Anna Vorwerk entgegen Kößlers Befürchtungen längst eine traditionelle Rolle innerhalb der Schullandschaft Wolfenbüttels gefunden hatte. Nicht zu verhindern war allerdings, dass 1935 das letzte Abitur stattfand und das Oberlyzeum eingestellt wurde. Damit war aus den ehemals umfangreichen Schlossanstalten ein sechsklassiges Lyzeum geworden, an dem etwa 200 Mädchen unterrichtet wurden.

Nach den Sommerferien wurde der sogenannte „Staatsjugendtag für die Jungmädelschaft“ am Sonnabend eingeführt. Das bedeutete, dass sonnabends kein normaler Unterricht mehr stattfinden durfte. Das Kollegium hatte diese Einschränkung, der natürlich einige Fachsstunden zum Opfer fielen, widerspruchslos zu akzeptieren. Auf der anderen Seite kann man sich vorstellen, dass die Mädchen nicht ganz unglücklich über diese Entwicklung waren, befreite sie sie doch von einem „lästigen“ Unterrichtstag. Die Schule sah sich darüber hinaus zahlreichen weiteren „staatspolitischen“ Veranstaltungen ausgesetzt. Bei allen möglichen Gelegenheiten musste ein „braunes“ Jubbiläum gefeiert werden. Nicht immer ist klar, ob diese Tage mit großer Begeisterung begangen wurden.

Es gab aber auch andere Töne. Im Herbstblatt von 1935 wird berichtet, dass 91 Prozent der Schülerinnen dem BDM oder der Jungmädelschaft beigetreten seien. Das war sicher nichts Ungewöhnliches, bleibt aber bemerkenswert. Erwähnt werden ferner zahlreiche Schulungskurse des NSLB, die von verschiedenen Lehrkräften besucht wurden. Im Herbstblatt von 1936 erschien der dümmliche Artikel „Wie Dr. Martin Luther unseren Führer voraussah“.

Die Schlossberichte der letzten Friedensjahre, wenn sie denn überhaupt erschienen, zeigen das häufig beobachtete Alltagsleben im „Dritten Reich“: es fanden Sammlungen für das Winterhilfswerk statt, man begann überall kräftig zu sparen und die Schülerinnen, die in die Oberstufe übertreten wollten, mussten seit Frühjahr 1937 eine „hauswirtschaftliche Prüfung“[3] ablegen. Letzteres ging auf die Frauenpolitik der Nationalsozialisten zurück, die die Zukunft von Frauen eher in der Familie als im Beruf sah. Gleichwohl wurde in einem Elternabend am 3.Dezember 1936 darauf hingewiesen, dass „es nicht die Aufgabe der Schule, sondern der Familie, der Mutter im besonderen, sei, die heranwachsenden Töchter planvoll in alle wichtigen hausfraulichen Aufgaben einzuführen“. Man sieht, dass die Nationalsozialisten zwar versuchten, Schulpolitik zu beeinflussen. Die Bemerkung auf dem Elternabend zeigt jedoch, dass man sich neuen Verpflichtungen gegebenenfalls zu entziehen wusste. Nicht zuletzt musste auch der „Staatsjugendtag“ am Sonnabend Vormittag, 1935 mit großem Getöse eingeführt, wieder aufgegeben werden.

Einen gewissen Einschnitt brachte am 1. Oktober 1937 die oben bereits angesprochene „Degradierung“ des Direktors Naumann. Bis zum 1. April besetzte Studienrat Thormeyer kommissarisch den Posten. Mit Beginn des neuen Schuljahres wurde Oberstudiendirektor Knochenhauer neuer Schulleiter beider Schule. Der Ton der Mittelungen in den Schlossberichten änderte sich fortan. Es wurde nun häufiger über „staatstragende“ Ereignisse und nationale Schulungen der Schülerinnen berichtet.

Dr. Markus Bernhardt

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